Inge Wettig-Danielmeier: Ein bewegtes Leben für die Sozialdemokratie

IWDEhrung Inge Wettig-Danielmeier für 60 Jahre SPD-Mitgliedschaft im Alten Rathaus. Bezirksvorsitzender Matthias Miersch und die stellvertretende Ortsvereinsvorsitzende Dr. Andrea Bindig überreichen die Ehrenurkunde. Foto: Per Schröter

Rede von Dr. Andrea Bindig, stellv. Vorsitzende SPD-Ortsverein Göttingen-Ost zur Ehrung von Inge Wettig-Danielmeier für ihre 60-jährige Mitgliedschaft in der SPD im Alten Rathaus Göttingen (14. Dezember 2019)

Liebe Inge, lieber Klaus,
Herr Oberbürgermeister, lieber Rolf-Georg,
sehr geehrte ehemalige Weggefährten, Mitstreiter von Inge Wettig-Danielmeier:
sehr geehrter Herr von Wangenheim,
sehr geehrter Herr Wolfgramm,
sehr geehrter Herr Holefleisch,
lieber Matthias Miersch,
liebe Genossinnen und Genossen, verehrte Gäste,

ich begrüße Sie herzlich im Namen des SPD-Ortsvereins Göttingen-Ost, dem die Jubilarin seit 54 Jahren angehört. Nur einmal unterbrach sie ihre Mitgliedschaft kurz, als sie in Wolfsburg 1974 für den Landtag kandidierte.

Göttingen war und ist ihre SPD-Heimat, obwohl sie hier nicht in die SPD eintrat. Mit Göttingen, mit der Region Südniedersachsen verbinden sich jedoch Jahrzehnte ihrer politischen Arbeit – vom Kreistag über den Landtag bis zum Bundestag. Von der Pike auf in Göttingen gelernt, könnte man sagen.

Dabei erreichte sie ein Alleinstellungsmerkmal: Länger als Inge Wettig-Danielmeier vertrat niemand die Stadt Göttingen, die Region Südniedersachen im Landtag und im Bundestag – insgesamt 33 Jahre. Damit können auch die legendären Abgeordneten der Region Willi Döring von der CDU und Klaus-Peter Bruns von unserer Partei nicht mithalten.

Zu ihrem Weg in die Berufspolitik und zur Dauer ihrer Mandatszeiten hat sie häufig festgestellt, dass nach dem Zweiten Bildungsweg und Studium Politik als Beruf nicht zu ihrer Berufsplanung gehörte. Sie bereitete sich auf die wissenschaftliche Laufbahn vor, als sie 1972 plötzlich entscheiden musste: Nachrücken in den Landtag für einen verunglückten Abgeordneten oder Abschluss der fast fertigen Dissertation. Sie entschied sich für das Mandat.

Möglicherweise wäre diese Arbeit zu einem viel zitierten Titel über die SPD geworden, denn Inge untersuchte, abgestützt durch zahlreiches empirisches Material, die innerparteiliche Demokratie in der SPD. Da sie selbst die Unterlagen nicht mehr auswerten konnte, stellte sie es später großzügig für andere Arbeiten zur Verfügung.

Inge fand in Wilhelmshaven zur SPD, während ihres Studiums an der Hochschule für Sozialwissenschaften – In dem Schlüsseljahr 1959, als die SPD nach einer Korrektur ihrer politischen Führung und dem Beschluss des Godesberger Programms zu einem entschlossenen Kampf um die politische Mehrheit in der Bundesrepublik ansetzte. Zehn Jahre später – 1969 – führte er 1966 über den Eintritt in eine Große Koalition zur Ablösung der Dauer-Regierungsparteien CDU/CSU.

Zum Aufstieg der SPD leistete sie 1961 ihren ersten Beitrag. Sie engagierte sich in Göttingen im Wahlkampfteam des SPD-Bundestagsabgeordneten Günter Frede. Auch im Wahlkreis Göttingen wirkte der Erfolg des Kanzlerkandidaten Willy Brandt. Der 1953 verlorene Wahlkreis wurde für die SPD zurückgewonnen.

Nach dem Göttinger Wahlsieg verließ Inge die Bundesrepublik für ein einjähriges Studium in den USA. Von dort zurückgekehrt, fand sie sich zum Studium in Göttingen wieder denn die Hochschule für Sozialwissenschaften war inzwischen mit der Universität Göttingen fusioniert worden.

Die nächsten Jahre bestimmten Studium, Mitarbeit in der sozialdemokratischen Studentengruppe und bei den Jusos, schließlich Examen. Danach wurde sie 1967 als einzige Frau in den Ortsvereinsvorstand Göttingen gewählt – heute ist das der Stadtverbandsvorstand. Stellvertretende Vorsitzende wurde sie zwei Jahre später, und sie zog in den Kreistag ein. Mehr Frauen gab es in diesen Gremien trotzdem nicht. Es waren stets nur eine oder zwei Frauen in den männerbestimmten Gremien.

Offensichtlich konnte sie sich durchsetzen, aber sie spürte auch Abwehr und die Isolation, die Frauen zu Einzelkämpferinnen machten. In dieser Zeit entstanden bei ihr die ersten Überlegungen, wie sich diese Situation grundlegend verändern ließe. Mit anderen Genossinnen organisierte sie einen bundesweit operierenden Arbeitskreis Emanzipation, der Analysen und Vorschläge für eine Gleichstellungspolitik erarbeitete.

Doch zunächst galt es, Kommunalpolitik zu machen. Sie setzte die Koedukation für die weiterführenden Schulen des Landkreises durch und gemeinsam mit Hellmut Roemer den Beschluss, zwei Gesamtschulen zu errichten. Der Kampf um diese Gesamtschulen begleitete sie dann für zwei Jahrzehnte: im Kreistag, im Landtag bei den Beratungen über das neue Niedersächsische Schulgesetz und schließlich in der langen Regierungszeit von Ernst Albrecht, als das Kultusministerium immer wieder versuchte, diesen Schulen die Luft zum Atmen zu nehmen. Heute sind diese Gesamtschulen über vierzig Jahre alt, sie arbeiten erfolgreich, im Schulangebot der Stadt haben sie einen festen Platz. Dass ihre Gründung und ihre Anfangsjahre umkämpft waren, gerät langsam in Vergessenheit.

Inge Wettig-Danielmeier war nicht nur Schulpolitikerin. Sie wurde zur zentralen Hochschulpolitikerin der SPD-Landtagsfraktion. Damit war sie in die Kämpfe um die Ausweitung der Mitbestimmung in den Hochschulen verwickelt. Göttingen war dabei ein besonderes Schlachtfeld, wo sie an vorderster Front für das SPD-Programm Mehr Demokratie wagen kämpfte.

Aber es ging damals nicht nur um die Veränderung der Ordinarienuniversität, zentral war der Ausbau der niedersächsischen Hochschulen. In Göttingen die 2. Ausbaustufe der Universität. Hier musste es nach 1976, auch nach dem Sturz der SPD/FDP-Regierung weitergehen.

Legendär sind die Landtagsdebatten, die sie mit dem politikfremden neuen Wissenschaftsminister Eduard Pestel austrug. Ministerpräsident Ernst Albrecht übernahm schließlich die Antwort auf ihre Oppositionskritik selbst. Pestel kehrte 1978 nicht ins Ministeramt zurück.

Neben den großen Fragen der Bildungspolitik stand immer der Wahlkreis im Mittelpunkt ihrer Arbeit. Übernehmen konnte sie ihn erst 1978, nachdem ihn Peter von Oertzen 1974 verloren hatte. Er war im politischen Umfeld der erste Albrecht-Jahre nicht direkt zu gewinnen. Albrecht gewann mit der CDU zweimal die absolute Mehrheit im Landtag, doch 1986 holte Inge den Wahlkreis für die SPD zurück.

Seitdem konnten ihre Nachfolgerinnen – erst Hulle Hartwig, seit 1998 Gabi Andretta – ihn stets verteidigen.

Inge Wettig-Danielmeier hat nie verborgen, dass sie Opposition für Mist hält. Wenn es eine Chance zum Mitregieren gibt, dann sollte man sie nutzen. Doch das politische Profil darf dabei nicht verloren gehen.
Wie hart Oppositionsjahre sein können, darüber hatten sie 14 Albrecht-Jahre belehrt und im Bundestag erlebte sie noch einmal acht Jahre Opposition zur Kohl-Regierung.

Dass man auch aus der Opposition etwas bewirken kann, zeigen zwei Projekte in ihrem Wahlkreis:

Sie setzte ein damals viel bestauntes Projekt Frauen in Männerberufen beim Landkreis durch.

Als das Deutsche Theater baupolizeilich und nach der Arbeitsstättenverordnung vor der Schließung stand, manövrierte sie Restmittel, die das Staatstheater Braunschweig nicht ausgegeben hatte, nach Göttingen. Kooperation mit Kollegen aus anderen Fraktionen war ihr niemals fremd. Bei dieser Aktion unterstützte sie der direkt gewählte CDU-Abgeordnete des Wahlkreises, der damalige Landtagspräsident Heinz Müller, nach Kräften.
Wie auch immer wieder ihre Zusammenarbeit mit dem CDU-Abgeordneten von Wangenheim Göttinger Projekten in den Oppositionszeiten über finanzielle Hürden half.

Die Schwerpunkte in der Arbeit von Inge Wettig-Danielmeier verlagerten sich, als sie in die Führung der 1973 gegründeten Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen aufrückte. Sie hatte entscheidend für die Gründung dieser Arbeitsgemeinschaft gestritten. 1981 wurde sie Bundesvorsitzende, in den Parteivorstand wurde sie 1982 gewählt.
Alles gute Gründe, um aus dem Landtag in den Bundestag zu wechseln.

Ein Wechsel bot sich 1987 an, da der bisherige SPD-Bundestagsabgeordnete nicht erneut antrat. Sie verzichtete auf die Bewerbung, da sie während der Nominierungsphase dem Regierungsteam von Gerhard Schröder angehörte. Das Ausscheiden aus dem Schröder-Team hätte als Zweifel am Wahlsieg gedeutet werden können, sodass sie Schröder dringend um den Verzicht auf den Wechsel nach Bonn bat.

Sie entschied sich mehrfach zugunsten des Wahlkreises, zugunsten Niedersachsens, wenn ihr Posten in anderen Regierungsteams angeboten wurden, die zu Ministerehren hätten führen können. Schließlich blieb sie auch Schatzmeisterin der SPD, als sie 1998 ins erste Kabinett Schröder hätte wechseln können. Da spielte sicher auch hinein, dass sie Gerhard Schröder seit seinen Göttinger Tagen gut kannte und sie sich nicht der von ihm bestimmten Kabinettsdisziplin unterwerfen wollte. Als Schatzmeisterin der SPD war sie auch unter dem SPD-Vorsitzenden Gerhard Schröder unabhängiger.

Was 1987 nicht gelang, war 1990 überraschend möglich. Die SPD des Wahlkreises hatte sich wieder einmal bei der Nominierung des Bundestagskandidaten zerstritten. Der nominierte Kandidat konnte den Wahlkreis 1987 nicht gewinnen und die Landes-SPD hatte ihn nicht auf der Liste abgesichert. Wiederum – wie 1953 – blieb die SPD des Wahlkreises ohne Bundestagsabgeordneten.

Es war klar: Würde Inge Wettig-Danielmeier für 1990 nominiert, fiele ihr ein sicherer Listenplatz zu.
1990 war der Wahlkreis nicht direkt zu gewinnen. Die SPD fuhr bei der ersten gesamtdeutschen Wahl ein schlechtes Ergebnis ein und die CDU legte mit der Kandidatin Rita Süssmuth 1987 deutlich zu. 1990 konnte Süssmuth ihr Ergebnis noch einmal steigern. Doch 1994 verschob sich die Konkurrenz zugunsten von Inge. Süssmuth verteidigte im Eichsfeld, in Göttingen lag sie nur 13 Stimmen vor Inge. In allen anderen Gemeinden fiel sie auf den zweiten Platz zurück.

1998 wechselte dann der Wahlkreis. Der SPD-Wahlsieg legte die Basis für den Direktgewinn des Wahlkreises durch Inge, die ein außerordentliches Erststimmenergebnis erzielte. Wiederum hatte sie einen von einem Mann verlorenen Wahlkreis zurückerobert. Als 2002 ein CDU-Kandidat gegen sie antrat, verteidigte sie den Wahlkreis souverän.

Sie hat stets bedauert, dass die Spitze der Stadt und des Landkreises während ihrer Bundestagsjahre wenig kooperationsbereit waren. Nur Duderstadt nutzte ihren guten Zugang zu Bundesinnenminister Otto Schily, sodass im Wettbewerb um die Standorte der Bundespolizei Duderstadt den Zuschlag erhielt.

Gemischt waren die Ergebnisse bei anderen für die Region wichtigen Einrichtungen: Gemeinsam mit Rita Süssmuth konnte sie die Auflösung des Lagers Friedland verhindern. Sie scheiterten beim Kampf für den Erhalt des Instituts für den wissenschaftlichen Film. Als die Max-Planck-Gesellschaft die Auflösung von Instituten in der Region beschloss, konnte das Institut für Geschichte nicht gerettet werden, doch ein Ersatzinstitut wurde Göttingen zugesprochen. Noch wichtiger war, dass Süssmuth und Inge die Auflösung des Instituts für extraterrestrische Physik verhinderten. Heute arbeitet es als Institut für Sonnensystemforschung mit weltweitem Ruf am Faßberg.

Als Inge 2005 auf eine weitere Kandidatur verzichtete, konnte sie auf eine beachtliche Lebensleistung für ihre beiden Wahlkreise, für die Region zurückblicken. Es waren persönliche Leistungen, es waren Leistungen für die SPD.
Nicht zuletzt konnte sie sagen: Einen Wahlkreis habe ich nie verloren. Zweimal habe ich jedoch einen Wahlkreis zurückgeholt.

Inge Wettig-Danielmeier ist wiederholt bei Abschieden aus Mandaten und Ämtern gedankt worden. Heute – bei dem seltenen Ereignis einer 60-jährigen Mitgliedschaft in unserer Partei – danken wir Inge für nimmermüden Einsatz, für ihre Kreativität und für ihre Durchsetzungsstärke.

Herzlichen Dank, Inge.