Manchmal erinnerte Artur Levi an seine Geburtsstadt München, wo er vor 100 Jahren am 28. August 1922 geboren wurde. Es amüsierte ihn, dass der gebürtige Göttinger Hans-Jochen Vogel Oberbürgermeister in München wurde und in Göttingen ein ehemals Münchener dieses Amt ausübte. Levis launige Anmerkung umging die Katastrophe der deutschen Geschichte: Die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus.
Während Hans-Jochen Vogel nach seinen Göttinger Jahren im Umfeld seiner Eltern in die bayerische Heimat der Familie Vogel zurückkehrte, durchlitt die jüdische Familie Levi das Schicksal von Ausgrenzung, Verfolgung, Emigration und Vernichtung.
In München gehörte die Familie zum wohlhabenden Bürgertum. Der Vater Heinrich Levi betrieb seit Jahrzehnten ein florierendes Geschäft für Textilien und Möbel. Die Familie fühlte sich assimiliert, bis die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 diese Illusion beendete. Schrittweise wurde die Lebenslage der jüdischen Bevölkerung eingeengt. Mit den Nürnberger Gesetzen begann dann 1935 die Rechtlosigkeit, die der Familie durch Arisierung des Betriebes die wirtschaftliche Existenz entzog. Der weitere Besuch des Gymnasiums war ebenfalls nicht mehr möglich.
Nachdem ein älterer Bruder Deutschland schon verlassen hatte, folgte ihm Artur Levi 1938 nach der Reichspogromnacht in das britische Exil. In letzter Minute kann die Mutter 1939 Deutschland verlassen, jedoch verlor sie über die Reichsfluchtsteuer, mit der die Nazis ausreisende Juden ausplünderten, das restliche Vermögen. Vater Levi hatte zuvor Suizid begangen.
Artur Levi muss in England sein Leben neu organisieren. Er ist Ausländer mit geringen Sprachkenntnissen, berufslos, vermögenslos. Arbeit fand er in der Metallindustrie, später an der Metallbörse. Wichtig wurde der Gewerkschaftsbeitritt. Sogar von der Internierung der Deutschen wurde er nach Kriegsbeginn 1939 ausgenommen.
Bestimmend für seinen weiteren Lebensweg entwickelte sich sein Zusammentreffen mit Emigranten der sozialistischen Splittergruppe ,,Internationaler sozialistischer Kampf-Bund‘‘ (ISK), die in Göttingen 1925 von dem Philosophen Leonard Nelson gegründet worden war. Artur Levi fand hier eine politische Heimat und in der strengen Schulungsarbeit der Nelsonianer bildeten sich seine politischen Vorstellungen.
Mit dem Kriegsende 1945 bot sich die Chance, die Theorie Praxis werden zu lassen: Beim Aufbau der Demokratie in Deutschland mitzuarbeiten. Die ISK-Leute schlossen sich 1945 der in Gründung befindlichen SPD an, und an die emigrierten ISK-Leute ging der Ruf zur baldigen Rückkehr.
Der Gründungsort Göttingen des ISK wurde zu einem Zentrum ihrer Aktivitäten in der SPD und in den wieder gegründeten Gewerkschaften.
Fritz Schmalz leitete den Allgemeinen Gewerkschaftsbund, aus dem später der DGB wurde, bis 1964. Mit ihm arbeiteten Fritz Körber für die Landarbeiter und Oskar Schmitt für die Bauarbeiter. Emmi Gleinig kam als Frauensekretärin hinzu. In der Kommunalpolitik engagierte sich Professor Heinrich Düker, der knapp das KZ Sachsenhausen überlebt hatte. Nach der ersten demokratischen Ratswahl wurde er Oberbürgermeister, bis er einem Ruf an die Uni Marburg folgte.
Die britische ISK-Gruppe bewog Artur Levi den Ruf nach Göttingen anzunehmen, wo er als Jugendsekretär arbeiten sollte, denn in der Jugendarbeit sahen sie einen Schwerpunkt. Millionen von Jugendlichen, die die NS-Jugendpolitik als ,,Hitlers Garanten der Zukunft‘‘ erzogen hatte, mussten auf den Weg in die Demokratie vorbereitet werden. Zu der offiziellen ,,Reeducation‘‘ wollten die Gewerkschaften ihren Beitrag leisten.
Artur Levi gelang in der ihm fremden Stadt Göttingen ein schneller Einstieg.
Er fasste Fuß in der Jugendarbeit, obwohl ihm stets Antisemitismus begegnete. Noch als geschätzter Oberbürgermeister erlebte er Schmähungen. Den Ruf seiner Jugendarbeit erreichte bald die DGB-Zentrale in Düsseldorf, die ihm zum Bundesjugendsekretär berief, doch verzichtete er nach einem Jahr auf eine Karriere im DGB und kehrte nach Göttingen zurück.
Zur Bildungspolitik im Niedersachsen der Nachkriegszeit gehörte die Chance, ohne Abitur über eine Immatrikulationsprüfung ein Hochschulstudium zu beginnen. Artur Levi bestand die Prüfung und studierte danach an der damaligen Pädagogischen Hochschule Göttingen. Als ausgebildeter Lehrer unterrichtete er später fast ein Jahrzehnt an der Egelsbergschule.
Für den Pädagogen Levi, der einen Schwerpunkt in der politischen Bildung der Schülerinnen und Schüler sah, eröffnete sich eine weitere Berufschance mit der Errichtung von Lehrstühlen für Politikwissenschaft an Pädagogischen Hochschulen. Der erste Lehrstuhlinhaber Christian Graf von Krockow holte 1961 den Praktiker Levi als Assistenten und damit begann eine neue Berufslaufbahn für ihn, die mit einer Ernennung zum Professor und der Würdigung als Ehrendoktor endete.
Seine kommunalpolitische Laufbahn begann, nachdem Göttingen durch Lehrerstelle und Heirat zu einer neuen Heimat geworden war. 1956 wurde er für die SPD in den Rat gewählt, dem er bis 1991 angehörte. Die SPD stellte erneut seit 1946 die stärkste Fraktion, konnte die von der FDP angeführte Bürgerblock-Politik, so Levis Bezeichnung, jedoch nicht brechen, Levis Politik als neuer Fraktionsvorsitzender verschaffte der SPD jedoch zunehmend in eine Schlüsselstellung. Ohne ihre Zustimmung kamen zentrale Ratsentscheidungen nicht mehr zustande.
Zum Durchbruch gelangte die SPD aber erst 1964, als sie 18 von 39 Sitzen eroberte.
In Koalitionen mit der FDP und der CDU begann die jahrzehntelange Dominanz der SPD in der Göttinger Stadtpolitik, die Artur Levi 1973 in das Amt des Oberbürgermeisters führte. Er hatte dieses Amt nicht angestrebt, da er nach wie vor eine antisemitische Stimmung spürte. In seiner Amtszeit – nur von 1981 bis 1986 unterbrochen – erwarb dann breite Zustimmung: Er beeindruckte durch seine Sitzungsleistung und seinen schlichten Repräsentationsstil; ausländische Gäste bewunderten seine Englisch-Kenntnisse. Nun setzte er deutliche Zeichen in der Erinnerungspolitik, so mit seinen Einsatz für das Holocaust-Denkmal am Platz der 1938 von den Nazis angezündeten Synagoge.
Der Rat der Stadt Göttingen ernannte ihn 1993 zum Ehrenbürger. Am 27. Mai 2007 verstarb Artur Levi.
Klaus Wettig