Liebe Genossinnen und Genossen des SPD-Parteivorstandes,
die Diskussion über den Umgang mit Geflüchteten und die Asylpolitik wird immer schärfer und emotionaler geführt. Dabei häufen sich falsche Behauptungen zu Folgen der Aufnahme von Flüchtlingen (z. B. Zahnarzttermine), Vorschläge, wie Flüchtende abgeschreckt werden können (Sachleistungen anstatt Geld), die Forderung nach Asyl-Obergrenzen und Modelle wie eine „Abschiebung im großen Stil“ erfolgen kann. Es wird – wie schon in den 1990er Jahren und 2016 – der Eindruck erweckt, Deutschland würde von Flüchtlingen „überrannt“ und die Politik habe bisher zu wenig getan, um die Kontrolle über diese Entwicklung zu behalten. Die Diskussion wird weitgehend faktenfrei geführt und dreht gegenüber 2016 das Erregungspotential noch einmal in die Höhe. Leider tragen auch Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten dazu bei.
Was sind die Fakten? 2023 nutzen bis September 251.000 Personen ihr Recht darauf einen Asylantrag zu stellen. Die Fliehenden kommen vor allem aus Syrien, Afghanistan und der Türkei, gefolgt vom Irak, Iran und Georgien. Ihre Zahl könnte bis Jahresende noch auf ca. 300.000 steigen. Zum Vergleich: im Jahr 2016 wurden in Deutschland 745.000 Anträge auf Asyl gestellt. Von einem „Überrennen“ oder von Kontrollverlust dürfte also keine Rede sein. – Allerdings gestaltet sich die Situation durch die Aufnahme von rund 1,1 Millionen ukrainische Kriegsflüchtlinge bis September 2023 angespannter. Diese Aufnahme haben wir als Staat und als Gesellschaft aber bewusst entschieden und die Kriegsflüchtlinge unbürokratisch, schnell und solidarisch aufgenommen – ohne negative Diskussionen. Die Entscheidung war und bleibt richtig und wichtig. Sie darf aber nicht gegen andere schutzbedürftige Geflüchtete ausgespielt werden – genauso wie auch nicht andersherum.
Wenn die Debatte weiter so geführt wird wie bisher, dann wird es negative Folgen geben, die wir als demokratische Gesellschaft vermeiden müssen und die wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten verhindern sollten. Zum einen würde eine weitere Entrechtung der Menschen auf der Flucht erfolgen. Dies können wir vor dem Hintergrund unserer historischen Erfahrungen und unserer Verpflichtung auf die Menschenrechte nicht wollen. Wie wichtig dies auch für den Erhalt unsere humane Gesellschaft ist, belegen die Erfahrungen der 90er Jahre. Durch den sog. »Asylkompromiss« von 1992 wurden weitreichende asyl- und grundrechtliche Einschränkungen eingeführt, die gemeinsam mit der medialen Berichterstattung als Brandbeschleuniger für rassistische und flüchtlingsfeindliche Gewalt wirkten.
Zugleich leiten wir mit einer restriktiv geführten Debatte „mehr Wasser auf die Mühlen“ rechtspopulistischer und rechtsextremistischer Bestrebungen, die mit großer Plausibilität dann darauf verweisen können, dass ihre Sichtweise auf die Situation sich durchsetzt und ihre Vorschläge tendenzielle von den Regierungsparteien übernommen werden. Ein Bollwerk gegen Rechtspopulisten in der öffentlichen Debatte errichten wir also nicht, wenn wir uns ihrem Druck beugen. Zielführender ist, dass wir mit Fakten aufklären sowie mit geeigneten Konzepten dagegen argumentieren und im Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern konsequent Ressentiments entgegenwirken.
Deshalb sollten wir für einen Pakt aller Demokratinnen und Demokraten und für eine auf die Menschenrechte aufbauende Asylpolitik werben. In diesem Pakt müssen wir dann geeignete politische Strategien zur raschen und zielgerichteten Integration aller aufenthaltsberechtigter Geflüchteter entwickeln. Dafür muss sich auf allen Ebenen eine institutionell geregelte Zusammenarbeit von Bund, Ländern, Kommunen, Gesellschaft und Wirtschaft etablieren. Es gibt in Deutschland z. B. Kommunen, die Platz für Schutzsuchende haben; diese Angebote muss die Politik ernstnehmen, auch um Druck von überlasteten Kommunen zu nehmen.
Angesichts des Arbeitskräftebedarfes und des demografischen Wandels mit seinen Folgen für die Sozialsysteme muss es unser Ziel sein, Menschen mit allen Qualifikationen zu gewinnen und mit sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Über das aktuell verabschiedete Fachkräfteeinwanderungsgesetz hinaus ist es deshalb sinnvoll, dass im Koalitionsvertrag vereinbarte generelle Einwanderungsgesetz auf den Weg zu bringen. Dies reduziert undokumentierte, auch unberechtigte Einwanderung über das Asylrecht und öffnet reguläre Wege der Einwanderung.
Zudem ist eine nachhaltige Planung für die Aufnahme der Menschen in den Wohnungs- und Arbeitsmarkt umzusetzen. Die nötigen Investitionen in die öffentliche Infrastruktur, so zum Beispiel für Betreuungseinrichtungen und Schulen, kommen am Ende allen Menschen zugute. Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten müssen auf dieser Grundlage die Debatten um den Umgang mit den zu uns Geflüchteten führen. Wir müssen offensiv in die Gesellschaft hinein die Diskussion sachorientiert, empirie-basiert und konstruktiv führen.
SPD-Stadtverbandsvorstand Göttingen