Am 10. Mai 1933 kam es zur Bücherverbrennung durch die Nationalsozialisten in Göttingen. Am Albaniplatz wurden im Rahmen der Kampagne „wider dem undeutschen Geist“ Bücher zu einem Haufen gestapelt und angezündet. 90 Jahre später organisierte die Göttinger SPD eine Gedenkveranstaltung und einen Büchermarkt am damaligen Ort des Geschehens.
Wir dokumentieren an dieser Stelle die Rede unserer Stadtverbandsvorsitzenden Insa Wiethaup, gehalten am 13. Mai 2023 auf dem Albaniplatz in Göttingen.
„Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.“
Diese düstere Prognose welche Heinrich Heine 1820 formulierte – und welche auch hier an diesem Mahnmal steht – wurde mehr als 100 Jahre später grausige Wirklichkeit. Im Frühjahr 1933, vor 90 Jahren, brannten in Deutschland die Bücher und die Scheiterhaufen waren ein weiteres Fanal für den Weg in die faschistische Diktatur und den Holocaust. Wer aber 1933 und in den nachfolgenden Jahren meinte, das brutale Vorgehen und den Terror der Nationalsozialisten gegen Andersdenkende sei überraschend gewesen, musste sich vorhalten lassen, dass nichts, aber auch gar nichts Überraschendes daran war.
Die Nazis hatten in ihren Schriften – Adolf Hitler in Mein Kampf und der Kulturideologe Alfred Rosenberg in Mythus des 20.Jahrhunderts – angekündigt, wie sie mit ihren politischen Gegnern, insbesondere mit einer von ihnen als undeutsch, nichtvölkisch, antinational, republikanisch, sozialistisch, pazifistisch angesehenen Kultur, umzugehen gedachten. Ausmerzen hieß ihr Lieblings-Verb für die angedachten Aktionen, die die Repräsentanten des Undeutschen, die Künstler und ihre Produzenten, treffen sollten.
Die nationalsozialistischen Medien waren von Anbeginn ihres Erscheinens nicht müde geworden, diesen Kampf zu propagieren, immer neue Hassobjekte wurden entdeckt, immer neue Volksschädlinge wurden ausgemacht. Novemberverbrecher hießen sie, Kulturbolschewisten. Nicht nur der Völkische Beobachter, predigte diesen Kurs, auch die parteiungebundene Presse unterstützte häufig diesen Kurs des Kampfes gegen das Undeutsche. So auch in Göttingen, wo das Göttinger Tageblatt die Nazi-Zeitung noch überbot.
Eine schlüssige Erklärung auf das Fehlen einer harten Gegenwehr, auf das tatenlose Zusehen von Millionen von Bürgerinnen und Bürgern bei den Anfangsaktionen der Nazis gab es nicht. Es war ja durchaus so, dass einige der Aktionen keine breite Zustimmung fanden, und schon gar nicht war die NS-Herrschaft in ihren Anfangsmonaten so gefestigt, dass massenhafter Einspruch sie nicht in Schwierigkeiten hätte bringen können.
Die Eskalation der Gewalt begann dann nach dem Reichstagsbrand am 27./28. Februar 1933, nun werden auch linksgerichtete Schriftsteller aus dem sozialdemokratischen-kommunistischen Umfeld verhaftet und die ersten, die sich bedroht fühlten, verlassen Deutschland. Der Exodus vieler Künstler, namentlich der künstlerischen Moderne, nimmt seinen Anfang. Um Bespiele zu nennen: Thomas und Heinrich Mann verlassen Deutschland, auch Bertolt Brecht und Lion Feuchtwanger.
Das Klima des Sieges über den verhassten Staat von Weimar beförderte der Wahlsieg von NSDAP und Deutschnationaler Volkspartei am 5. März. Das dann entstehende Gefühl der Stärke löste eine Fülle von Gewaltaktionen gegen politische Gegner, Andersdenkende, gegen Undeutsche aus, die vor allem die Juden treffen. Unter diesen Aktionen ragt mit den Judenpogromen am 1. April, in Göttingen schon am 28. März, neben der Besetzung der Gewerkschafts- und SPD-Häuser am 2. Mai, die Bücherverbrennung am 10. Mai hervor.
An dem Tag, an dem in Deutschland Bücher verbrannt wurden, hätte man ahnen können, dass es nicht alleine dabei bleibt. 70.000 Menschen haben damals dabei zugesehen, wie der Hass Flammen schlug, Bücher Feuer fingen und damit die systematische Verfolgung und Ermordung von Jüd*innen politisch Andersdenkenden und vieler anderer ihren bitteren Lauf nahm. Denn die Scheiterhaufen auf öffentlichen Plätzen waren der Höhepunkt der Kampagne „wider dem undeutschen Geist“, mit der – nur wenige Tage nach der Machtübertragung der Nationalsozialisten die systematische Verfolgung jüdischer, oppositioneller und unliebsamer Journalisten, Schriftsteller und Wissenschaftler begann. Viele Autor*innen haben ihre Verfolgung mit ihrem Leben bezahlt. Andere gingen ins Exil. Es kam wie von Heinrich Heine vorausgesagt.
„Ich übergebe der Flamme die Schriften von“
Im Anschluss an diese Worte folgten die Namen der 15 Autor*innen, stellvertretend für über 140 Personen, deren Werke öffentlich verbrannt wurden. Auf den Scheiterhaufen landeten Werke zahlreicher – auch heute zum Glück noch – bekannter Schriftsteller*innen: Bertold Brecht, Erich Kästner, Alfred Döblin, Anna Seghers, Erich-Maria Remarque, Else Lasker-Schüler, Sigmund Freud, Kurt Tucholsky …um nur ein paar wenige Namen zu nennen. Ihre Namen fanden sich auf der so genannten „schwarzen Liste“ des 29jährigen Berliner Bibliothekars Dr. Wolfgang Hermann.
Von April bis Mai 1933 gab es eine Woche andauernde öffentliche Kampagne in 22 deutschen Hochschulstädten, wie Berlin, München, Marburg, Würzburg, Kiel – und Göttingen. Sie begann am 13. April, als die Deutsche Studentenschaft weiße Plakate mit 12 Thesen anschlug. Die Studenten verkündeten klar und deutlich „Wir fordern die Auslese von Studenten und Professoren nach der Sicherheit im Deutschen Geiste.“ Im gesamten Monat Mai fanden 41 Verbrennungen statt im Rahmen der studentischen Aktion. Dabei gab es nicht nur Listen für das Sachgebiet Schöne Literatur, sondern ebenso für Philosophie, Politik und Staatswissenschaft, Geschichte und Kunst.
Zuvor kam es in einer ersten Terrorwelle ebenfalls zu Verbrennungen. Die ersten Bücher loderten bereits im Februar, als Verlage, Buchhandlungen und Redaktionen von Parteien und Gewerkschaften von der SA geplündert wurden. Auch in Göttingen lieferten die Akten des SPD-Büros und der Gewerkschaften das Brennmaterial, auch die Volksbibliothek wurde dafür beschlagnahmt. Sozialistische Literatur sollte vernichtet werden.
Die Teilnahme hoher nationalsozialistischer Würdenträger war die Ausnahme, erst in letzter Minute hatte sich der neu ernannte Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels bereit erklärt, am 10. Mai in Berlin zu sprechen. Die NS-Führung unterstützte nach anfänglichem Zögern die Aktion, aber sie fürchtete ablehnende Reaktionen, vor allem des Auslandes, deshalb war vielerorts ein Fotografierverbot erlassen worden. Durch Zufall fotografierte in Göttingen ein Berufsfotograf, der später die Fotos als Postkarten vertrieb.
Was bei der 2. Phase der Bücherverbrennungen noch den Charakter des Ungeordneten vermittelte, sollte sehr bald in systematische Verfolgung und Vertreibung übergehen. Die Säuberungen nach überarbeiteten und erweiterten Schwarzen Listen erfasste jede öffentliche Bibliothek und Leihbücherei, auch der Buchhandel lieferte zunehmend Bücher ab. Freiwilliger Gehorsam sozusagen. Bis November kam es zu 79 weiteren Bücherverbrennungen.
Bücher entführen uns nicht nur in die entlegensten Winkel dieser Erde und auf spannende Abenteuerreisen, sondern vermitteln uns auch wertvolles Wissen. Sie sind facettenreich und randvoll von Schätzen: mit neuen Denkansätzen, unbekannten Blickwinkeln und lehrreichen Erfahrungen. All diese wertvollen Schätze waren im Feuer verloren und mit Ihnen verlor Deutschland am Abend des 10. Mai 1933 seine Würde.
Den Flammen zum Opfer fiel „Gilgi, eine von uns“ von Irmgard Keun. Die mädchenhafte Gilgi bricht in diesem wunderschönen Buch aus den bürgerlichen Zwängen in die Bohéme aus. Autobiografisch, greifbar, und mit viel Humor steht das Buch für die gesellschaftlichen Veränderungen in der ausgehenden Weimarer Republik. Denn die junge Angestellte Gilgi – und dadurch wird sie zum Vorbild – kämpft sich durch und nimmt ihr Leben selbst in die Hand. Sie ist das, was man Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre als „neue Frau“ bezeichnete.
Verloren in den Flammen war eine Welt, in der sich Frauen emanzipieren und neue Wege gehen konnten.
Den Flammen zum Opfer fiel „Pünktchen und Anton“ von Erich Kästner. Ein Kinderroman der in seinen Wertvorstellungen und Denkanstößen immer noch hochaktuell ist. Es handelt vom Mädchen Louise (genannt Pünktchen), das aus einem wohlhabenden Elternhaus kommt aber von ihren Eltern vernachlässigt wird und dem Jungen Anton, der mit seiner kranken Mutter in einer kleinen Wohnung lebt und neben der Schule Geld verdienen muss.
Verloren in den Flammen war eine Welt, die Kinder erlaubte selbständig denkende und handelnde Menschen zu werden, mit Empathie und Nächstenliebe.
Den Flammen zum Opfer fiel „Im Westen nichts Neues“ von Erich-Maria Remarque. Der wohl bekannteste Anti-Kriegsroman und ein Klassiker der Weltliteratur. Im Mittelpunkt stehen die Erlebnisse des jungen Soldaten Bäumer, der sich unter dem Einfluss seines Klassenlehrers im Ersten Weltkrieg direkt von der Schulbank an die Front meldet. Er erlebt den Tod aller seiner Freunde und den Zusammenbruch seiner jugendlichen Welt in dem unvorstellbaren Grauen des Schützengrabens.
Verloren in den Flammen war eine Welt, in der die Würde jedes einzelnen Menschen geachtet wird und ein Leben ohne Gewalt ein wichtiges Gut darstellt, dass es für alle Menschen sicher zu stellen gilt.
Von Ausnahmen abgesehen hat es in Nachkriegsdeutschland weder eine breite öffentliche Rehabilitierung noch eine wirtschaftliche Entschädigung gegeben. Eine Auseinandersetzung mit den schrecklichen Geschehnissen fand nicht statt, wie überall in Deutschland, so auch nicht in Göttingen. 1953 bei der 1000-Jahr-Feier der Stadt – 20 Jahre nach der Bücherverbrennung auf dem Albaniplatz, 1933 noch Adolf-Hitler-Platz – wurde die Bücherverbrennung in der historischen Darstellung einfach übergangen, obwohl die 1000-Jahr-Feier durch einen besonderen Gast beehrt wurde, dessen Theaterstücke, in der Nazi-Zeit verboten waren: Carl Zuckmayer lässt sein Stück Ulla Winblad zu Ehren der Stadt von seinem Freund Heinz Hilpert uraufführen.
Der Rezensent, der 1933 im Göttinger Tageblatt über die Bücherverbrennung begeistert geschrieben hatte, rezensierte jetzt Zuckmayers Stück und schreibt lobend über den prominenten Gast aus den USA. Kein Wort, keine Zeile verlor er über die Gründe für Zuckmayers US-Staatsbürgerschaft. Als 1965 Göttinger Studenten nach Dokumenten über die Bücherverbrennung suchten, verweigerte ihnen das Universitätsarchiv jede Hilfe. Der damalige Leiter war ein hochbelasteter, ehemaliger Nationalsozialist.
Als 1983 – fünfzig Jahre nach den Bücherverbrennungen – endlich umfassendere Veröffentlichungen erschienen und auch Gedenkorte errichtet wurden, waren die meisten Organisatoren und Redner der Bücherverbrennung zwar nicht mehr unter den Lebenden, im Unterschied zu den von ihnen Verfolgten und Diffamierten hatten sie aber problemlos die Nazizeit überstanden, konnten sich in die Bundesrepublik integrieren und hatten stets ein gutes Auskommen gehabt.
Wo stehen wir heute? Unser Gedenken darf nicht zum Selbstzweck werden, unser Mahnen nicht dazu dienen uns in ein helleres Licht zu stellen. Nur für einen Blick in die Vergangenheit müssten wir heute hier nicht stehen. Wir müssen unseren Blick in die Gegenwart richten, und mit dem Wissen von dem, was damals passiert ist unser Handeln von heute überprüfen.
Was müssen wir tun, damit das Geschehene nie wieder passiert, was sind unsere Lehren aus der Vergangenheit. 90 Jahre nach dem Kulturbruch der Bücherverbrennung sollten wir uns immer wieder bewusst machen, wie schleichend sich der Tag der Verbrennung durch Verächtlichmachung von Kultur vorbereitete. Wie wichtig es ist wachsam zu sein und jegliche Einschränkung unserer Meinungsfreiheit entgegenzutreten ebenso wie den Versuchen, kritische Stimmen mundtot zu machen – sowie bei dem Ruf nach Verboten für unliebsame Äußerungen wie der von Fridays für Future, Morddrohungen an Antifaschist*innen oder das Verbrennen des Korans.
Und – das möchte ich hier noch abschließend sagen. Wir müssen uns gegen jegliche Instrumentalisierung dieser schrecklichen Taten verwehren, um unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit Hass und Hetze gegen Andersdenkende zu verbreiten. Denn Hass ist keine Meinung, Fakenews und Diskriminierung gilt es nicht zu schützen. Hass und Hetze zerstörten schon einmal unsere Demokratie und sind der Ursprung für das, woran wir heute gedenken. Lassen Sie uns also nach vorne schauen und die Lehren der Vergangenheit unser Handeln von heute leiten.