Tief nach Ereignissen und Entwicklungen gegraben

Grabe, wo du stehst.“ So zitiert Landtagspräsidentin Dr. Gabi Andretta eine Tradition der Geschichtswerkstätten. Im Vorwort von „Soziale Demokratie und Geschichte“, in dem das sozialdemokratische Urgestein Klaus Wettig eine umfangreiche Sammlung  verschiedener Reden und Aufsätze anlässlich seines 80. Geburtstags vorlegt, greift die Abgeordnete einige Themen heraus, die den Band auszeichnen. Hierzu gehören der Internationale Sozialistische Kampfbund ISK um den Philosophen Leonard Nelson, das Fortwirken des Nationalsozialismus nach Ende des Krieges und das aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbare reaktionäre Klima in der Göttinger Kulturpolitik, das sich unter anderem wegen eines harmlosen Reliefs an der Stadthalle ausbreitete.

Was steht im Mittelpunkt des Buches? Ist es nur die Göttinger Stadtgeschichte mit Ereignissen und Personen aus den letzten 100 Jahren, wie Klaus Wettig selber meint? Nein, der ehemalige Europaabgeordnete, der vor allem nach seiner aktiven Zeit als Abgeordneter seine Leidenschaft als Geschichtsforscher entdeckte, grub deutlich tiefer. Er schildert nicht nur Ereignisse und Abläufe, sondern er ordnet ein und zeigt Entwicklungslinien auf. Auch jüngere Leserinnen und Leser können sich bei der Lektüre ausmalen, wie es in der Theaterstraße zwischen den Weltkriegen ausgesehen haben muss. Kleinere Läden im Erdgeschoss, Kanzleien darüber und Wohnungen mit Mansarden unter dem Dach, die nach und nach von Nazi-Anhängern übernommen wurden, laden zu einer anrührenden Zeitreise ein. Wettig schreibt sachlich und lässt dennoch Kenntnisreichtum und Empathie erkennen, ohne besserwisserisch zu wirken. Die zeitliche Reihenfolge mag etwas gewöhnungsbedürftig sein, nicht jedoch bei der Theaterstraße. Im Aufsatz unmittelbar zuvor werden nicht einfach die Vorgänge rund um die Bücherverbrennungen geschildert, sondern Einordnungen vorgenommen, die bis zum heutigen Tag die besondere Bedeutung von Toleranz und Vielfalt für das demokratische Zusammenleben veranschaulichen.

Nur wenige Male begegnen Leserinnen und Leser einigen Lücken, die einem Sammelband mit Beiträgen geschuldet sind, die aus unterschiedlichen Anlässen entstanden sind. Zieht man im eigenen Kopf mehrere Aufsätze zusammen, so entsteht eine Chronologie des Bundestagswahlkreises Göttingen von der Kaiserzeit über die Weimarer Republik bis in die Ära Willy Brandt.

Mit der Feststellung, dass Göttinger Abgeordnete verschiedener Parteien häufig nicht einfache Abgeordnete blieben, sondern herausragende Positionen eingenommen haben, endet die Wahl- und Personengeschichte aus heutiger Sicht etwas abrupt Ende der 80er Jahre, denn mit dem früheren Wissenschaftsminister, Fraktionsvorsitzenden und Vizepräsidenten im Bundestag Thomas Oppermann hat der Wahlkreis im Herbst 2020 ein politisches Talent verloren, dessen Licht nach seinem plötzlichen Tod vielleicht noch heller scheint als zu Lebzeiten -bei Wettig aber nur kurz vorkommt. Was mögen künftige Politikbeobachter aus ihrer Sicht zur heutigen Situation beitragen? Man grabe tief, um historische Ereignisse und Entwicklungen ans Tageslicht zu bringen! Die Auseinandersetzung lohnt sich auch in Zukunft. (gaf)

Klaus Wettig: Soziale Demokratie und Geschichte. Reden und Aufsätze. Mit einem Vorwort von Dr. Gabriele Andretta, 451 Seiten, Wallstein Verlag, 26 Euro. ISBN 978-3835338555 im örtlichen Buchhandel, aber auch coronasicher im Versandhandel wie www.buecher.de erhältlich.